Für Ghayath al-Madhoun und seine Million arabischer Dichter
1. Ich entschied mich, Syrien an dem Tag zu verlassen, als ein Querschläger vor meinen Augen auftauchte. An diesem Tag wurde mir klar, dass meine Heimat nicht mehr meine Heimat war. Mein Blut nicht mehr mein Blut, und meine Freiheit einem Freiheitskämpfer gehörte, der gar nicht daran dachte, mich um Erlaubnis zu bitten, bevor er mich erschoss: einem Mangel an Höflichkeit begegnen wir oft in Kriegszeiten. 2. Wenn sie mich schon umbringen werden dann besser in einer Fremdsprache. 3. Auf dem Weg von Damaskus nach Berlin traf ich einen alten Soldaten aus Dara'a, der seine Albträume nicht mehr tragen konnte. Ich rollte sie ein und steckte sie in meinen Koffer; am Flughafen zahlte ich die Gebühr für zusätzliches Gepäck. 4. Jeder, der keine Angst davor hat, die Grenze zu überschreiten, schleppt den Krieg auf dem Buckel. 5. Tausch dein bestes Hemd gegen eine schusssichere Weste, deine Gedichte gegen das erste Kapitel des Korans und dein Haus in Athen gegen einen Thron auf dem Egaleo. So kannst du von dort oben den kommenden Krieg betrachten. 6. Dieser Krieg ist banal und langweilig, gespickt mit Vergleichen und blumigen Adjektiven, seine Geschichte ist in Comic Sans geschrieben, die Gewalt ist so unbegrenzt, dass der Krieg gar nicht weiß, wo er sie hinpacken soll, ein Grab für jedes Tausend Leichen, ein Schatten für jedes Tausend Überlebender, es ist ein taktloser Krieg, Fässer erbrechen Sprengstoff, Stahlzylinder gefüllt mit Waschmaschinenzubehör und Autoteilen, der Krieg, der gestreut wird, ist ein irdischer Krieg, dieser Krieg gehört rechtmäßig uns, weil wir darin all unsere Angehörigen begraben haben. 7. Am 7. Januar 2014 hörte die UN damit auf, Syriens Tote zu zählen. Diese Entscheidung bescheinigt der Mathematik, eine Wissenschaft der Qualität, nicht der Quantität zu sein, der lebendigen Arbeit, nicht der Form, der Zeit, nicht des Raumes – anders ausgedrückt, Mathematik ist die Wissenschaft, die die materiellen Beziehungen zählbarer Objekte erforscht. 8. Ende 2015 waren laut Facebook 311 Freunde von mir seit Beginn des Krieges gestorben. Ich beschloss, meinen Account zu schließen: der Tod sollte ein Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Ich kann mein Leben nicht in seinem Kielwasser verbingen. 9. Ich, Ahmed, Sohn von Aisha, möchte, obwohl ich nichts weiter als ein demütiger Flüchtling bin, im Namen der Syrer die griechischen Männer und Frauen um Entschuldigung bitten, dafür dass wir euren Bildschirm mit unseren Toden füllen, wenn sie ihr Abendessen verspeisen und auf ihre Lieblingsshow warten, ich möchte mich bei der Stadtverwaltung entschuldigen, dafür dass wir unseren Müll an ihren Stränden lassen und die Küsten mit Bergen aus Plastik verschmutzen, wir sind unzivilisiert und haben kein Umweltbewusstsein, ich möchte mich bei den Hotelbesitzern und Reiseveranstaltern entschuldigen, dafür dass wir den Inseltourismus schädigen, ich möchte mich dafür entschuldigen, dass wir das Stereotyp des elendigen Migranten durch unsere Handys und saubere Kleidung erschüttern, ich möchte mich bei der Küstenwache entschuldigen, die die undankbare Aufgabe übernimmt, unsere Boote zu versenken, bei der Polizei, weil wir in ungeordneten Reihen stehen, bei den Busfahrern, weil sie Mundschutz tragen müssen, um sich vor den Krankheiten zu schützen, die wir einschleppen, auch will ich die griechische Gesellschaft demütigst um Entschuldigung dafür bitten, dass wir die Kapazität ihrer Sammellager übersteigen und auf Plätzen und in Parks schlafen – schließlich möchte ich mich bei der griechischen Regierung entschuldigen, weil sie um zusätzliche Unterstützung bei der Europäischen Union ersuchen musste, um die Lieferanten der Sammelunterkünfte zu bezahlen, genauso wie die Busfahrer, die Polizei, die Küstenwache, die Reiseveranstalter, die Hotelbesitzer, die Stadtverwaltung und die Fernsehsender. 10. „Mach dir keinen Kopf“, sagte die Kugel, „ich gehe rein und wieder raus.“ Ich erklärte ihr, dass ich das nicht erlauben könne, denn wenn sie mich verließ, würde sie ein paar Erinnerungen mitnehmen – wie das Gesicht des Mädchens, das ich in der 5. Klasse liebte, die Stimme des Imam, als mich mein Vater das erste Mal zum Gebet mitnahm, der Geruch des frisch gebackenen Brotes in Großmutters Haus, die Finger meiner Lehrerin, als sie mir beibrachte, das Wort الحرب zu schreiben, und Van Bastens Siegtreffer bei der EM '88. 11. Es ist bekannt, dass keine Organisation Waffen auf dem Schwarzmarkt ohne amerikanische Erlaubnis kaufen kann. Das ist einer der Gründe, warum ich niemals den Unterschied zwischen Aufklärung und Völkermord verstanden habe. 12. Wenn du nicht als Kanonenfutter enden möchtest, wenn du nicht möchtest, dass dich der Krieg mit heruntergelassener Hose erwischt, denk scharf nach, verdoppele den Klassenkampf, organisier dich, verdreifache den Klassenkampf, kämpf, füll deine Taschen mit Steinen, klemm dich an deine Waffen. Heraus mit den Linken! Bringt uns die Spartakisten wieder! Heraus mit den NGOs! Bringt uns die Garibaldi-Brigade wieder! Heraus mit den Humanisten! Bringt uns die italienischen Autonomen wieder! Die Schlacht fängt gerade erst an.
Übertragen von Adrian Kasnitz